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Man nannte ihn DAS Gehirn und DEN Regisseur: Über 600 Profispiele hat der Meister des Mittelfeldes absolviert, davon die meisten in der italienischen Serie A für den AC Milan und Juventus Turin, flankiert von 116 Länderspielen für die Squadra Azzura, inklusive Gewinn der Weltmeisterschaft 2006… Nach einem Zweijahres-Intermezzo beim New York City FC startete Pirlo (43) mit taufrischem Trainerschein als erhoffter Heilsbringer bei der „alten Dame“ Juventus seine Trainer-Karriere. Aber die Schuhe beim Rekordmeister waren zu groß, die erhofften Erfolge blieben aus – der Novize musste nach einer Saison schon wieder gehen.
Rückblickend bleibt festzustellen: So schlecht lief es gar nicht, denn immerhin holte er mit dem italienischen Pokal und dem Supercup zwei prestigeträchtige Titel. Und Nachfolger Allegri hat gerade auch nur den vierten Tabellenplatz erreicht.
Der Emporkömmling greift die Platzhirsche an
Und jetzt? Kara wer? Beim Istanbuler Vorstadtclub, der in der Gunst der Hauptstadtfans weit abgeschlagen hinter Fenerbahce, Galatasaray und Besiktas rangiert, konfiguriert der Maestro sein Comeback. Sicher mit dem Ziel, perspektivisch wieder einen Big City Club in Italien übernehmen zu können, der um Titel und in der Champions League spielt. Aber jetzt gilt es erst einmal in der türkischen Süper Lig zu punkten.
Aber wer oder was ist Fatih Karagümrük, Tabellenachter in der zurückliegenden Saison? Der Club wird von den etablierten Fußballmarken als Emporkömmling bezeichnet, hat weder ein eigenes Stadion, noch ein Trainingsgelände. Dafür aber mit Patron Süleyman Hurma (58) einen Eigentümer, der sein erfolgreiches Unternehmen verkauft hat, um sich den Traum vom Fußball-Präsidenten zu erfüllen. Die Heimspiele finden gut 15 Kilometer vom Stadtteil Fatih entfernt im Atatürk-Olympiastadion statt, wo sich meist nicht mehr als 10.000 Fans verlaufen. Und jetzt hat er einen Weltstar gekauft, der als Spieler bereits alles bewiesen hat, als Trainer sich aber noch beweisen muss. Die fußballverrückte Türkei scheint der richtige Ort, den Karriere-Reset zu starten, denn international ist die Liga weniger präsent als die europäischen Top-Ligen. Pirlo ist vorsichtig, er hat erst mal einen Einjahresvertrag unterschrieben. Dabei können sich die Konditionen sehen lassen: Bis zu 1,5 Millionen Euro soll er verdienen. Netto, versteht sich.
Die Glanzzeiten hatte der Istanbuler Vorort-Club in den 50er- und 60er-Jahren des vergangenen Jahrtausends. Seit der Saison 2020/21 spielt man wieder in der ersten Liga.
Der einstige Liebling aller Fans
Pirlo war kein „normaler“ Fußballer: Er war reflektiert, legte wenig Wert auf die ansonsten üblichen Statussymbole wie teure Autos oder Designer-Klamotten. Er war überall der unbestrittene Chef! Er redete nicht viel. Aber seine Worte hatten Gewicht! 2014 veröffentlichte er ein vielbeachtetes Buch. Titel: „Ich denke, also spiele ich.“ Versehen mit einem Vorwort von Ex-Nationaltrainer Cesare Prandelli, der ihn als „schützenswerte Spezies“ bezeichnet. Prandelli adelt seinen ehemaligen Kapitän: „…Die Tifosi erblicken in ihm einen Meister aller Klassen, der sie vergessen lässt, dass sie Fans eines bestimmten Clubs sind. Er verkörpert Italien für sie. Es würde mich nicht wundern, wenn er nachts in einem blauen Pyjama schlafen würde, der Farbe der italienischen Nationalmannschaft, die er über alles liebt.“ Und weiter mit Prandellis Ode an seinen einstigen Schützling Pirlo: „Auf dem Feld verübt er mit der größten Selbstverständlichkeit wahre Geniestreiche. Es gibt nur wenige Fußballer, bei denen der Kopf ebenso mitspielt wie bei ihm… Was ihn aber eigentlich zur Ausnahmeerscheinung auf dem Platz macht, ist, dass Andrea ein stiller Dirigent ist, wie es sie im Fußball nur selten gibt… Andrea ist ein Träumer, und als solcher lässt er uns träumen…“
Und genau deshalb hat ihn Patron Hurma verpflichtet: Nämlich um von der Meisterschaft und vom internationalen Geschäft träumen zu können! Und Pirlo? Der träumt im azurblauen Schlafanzug vom übernächsten Karriereschritt – dem Posten des italienischen Nationaltrainers.